„Hallo, wir heißen Sauerstoff“ –

oder: wie Sauerstoff die Welt sieht

 
 

Besuch aus der Luft

Gewöhnlicher hätte der Tag nicht sein können. Blauer Himmel, ein feines Lüftchen, Straßenlärm, und ich saß in meinem Arbeitszimmer, Papiere ordnend. Eine Rechnung, die schon längst hätte bezahlt werden sollen, kam zum Vorschein, aber mein Lieblingsstift war verlegt, überall lagen ausgedruckt Mails und Zeitungsausschnitte, die am passenden Ort abgelegt oder weggeworfen werden mussten. So arbeitet man sich durchs Leben.

„Hallo“, sagte eine quicklebendige Stimme vom Bücherbord über dem Schreibtisch her – nein, es waren zwei Stimmen, ein Duett. Ich hob den Kopf und verlor beinahe meinen Verstand beim Anblick des außergewöhnlichsten Gegenstands der mir meiner Lebtag lang je vorgekommen war. Oder war es ein Lebewesen? Immerhin war ich soeben begrüßt worden. Zweifellos hätte selbst eine Blattlaus auf der Zimmerpflanze meine Verwirrung bemerkt, die sich steigerte, als ich nochmals angesprochen wurde: „Hallo, wir heißen Sauerstoff!“

Da saß eine Art kleine, transparente Doppelkugel vor mir, ähnlich wie zwei gleich große Seifenblasen, die sich berühren und deshalb eine gemeinsame Fläche teilen. Die Erscheinung ließ sich kaum in Worte fassen, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass jede der beiden Kugeln vielleicht ein Gesicht besaß und auf jeden Fall zwei Arme. Die zwei hielten Händchen, und das erst noch doppelt! Schien eine innige Beziehung zu sein. Während ich beinahe den Verstand verlor, plapperten die beiden vergnügt auf mich ein: „Wir sind wichtig für dich! Ohne unsereins könntest du nicht leben. Wir sind die Sauerstoffs, wir sind unendlich viele, und du atmest uns ein. Wir liefern deinem Körper Energie!“

Hatte ich mir das je überlegt? Mir schwante, dass mir die beiden Kleinen einiges erzählen könnten. Als ich wieder zum Bücherbord blickte waren sie verschwunden.


Sauerstoff ist derjenige Bestandteil der Luft, der für uns lebenswichtig ist. Mit jedem Atemzug bringen wir ihn in unsere Lungen, wo er ins Blut übertritt. Das Blut transportiert ihn zu jeder Zelle des Körpers. Die vom Organismus benötigte Energie entsteht dort aus der „Verbrennung“ der Nahrungsbestandteile Kohlenhydrate, Fette und Proteine mit Sauerstoff. Dieser Prozess läuft allerdings nicht so heftig wie beim Verbrennen von Holz in einem Feuer, sondern von uns unbemerkt und bei Körpertemperatur. Die Sauerstoffs befinden sich im Mittelpunkt des Geschehens und hätten einiges zu erzählen wenn sie könnten...

Tatsächlich waren und sind viel Denkarbeit und raffinierte Experimente nötig, um diese Prozesse aufzuklären und zu verstehen. Den Sauerstoff in der Luft sieht man nicht einfach so, und was er im Körper anstellt sieht man noch viel weniger. In der Luft existiert er als winzige Doppelkugel aus zwei Sauerstoffatomen; dieses Gebilde nennt man Molekül (wie alle Gebilde, die aus mehreren Atomen bestehen). Weil ein Sauerstoffatom in der Chemie mit dem Buchstaben O bezeichnet wird symbolisiert die Abkürzung O2 ein Sauerstoffmolekül. Es besitzt eine Länge von etwa 0,3 Nanometern. Das ist unvorstellbar klein, nämlich 0,0000003 Millimeter oder ein Drittel von einem Millionstel Millimeter. Und weil die Sauerstoffmoleküle nicht farbig sind, sehen wir sie auch dann nicht, wenn sie als Ansammlung von Milliarden mal Milliarden Exemplaren vor unseren Augen herumtanzen.


Dennoch sei die Freiheit erlaubt, sich die Abenteuer der Sauerstoffs von ihnen selbst erzählen zu lassen.



Eine leichte Lektüre mit Erläuterungen und Experimenten – Teil 1


Autorin: Dr. Veronika Meyer